07.08.2010 - M´era Luna Festival 2010 - Teil 1 (Hildesheim-Drispenstedt)

Es war einmal vor langer Zeit, da begab es sich dass ein kleiner unschuldiger Bub sich in das größte Abenteuer seines Lebens stürzte und mit einem Wochenende auf dem Hildesheimer Flugplatz seinen bis dahin orientierungslosen Musikgeschmack in eine völlig neue Richtung lenkte. Witt, Wolfsheim, Project Pitchfork, Paradise Lost und Deine Lakaien waren damals die Namen, mit denen mich das Zillo Festival 1999 nach Drispenstedt gelockt hatte. Es war Liebe auf den ersten Kick! Mit einem Säckel voller interessanter Bands verließ ich seinerzeit das Festivalgelände und fand den Einstieg in eine faszinierende Welt voller kreativer Klänge und musikalischer Freiheiten. Nur ein Jahr später wurde aus dem Zillo Fest das M´era Luna. Während der neue Name (so wird es zuweilen überliefert) ein gewiefter Trick war um Sisters of Mercy Mastermind Andrew Eldritch zu einem Auftritt auf dem Festival zu bewegen, haben sich zwei elementare Pfeiler des Events bis heute nicht geändert. So ist das M´era Luna auch in seinem 11. Jahr noch immer das größte Festival der schwarzen Szene und noch immer spielen die Sisters (mehr oder weniger) ausschließlich für Chefveranstalter Folkert Koopmans ein Gothic Open Air.

Und so hielten die Sisters of Mercy neben aktuellen Großkalibern wie Placebo, Unheilig, In Extremo und den Editors zum nunmehr dritten Mal die Flagge der Hildesheimer Oldschool Fans hoch, während das weitere Programm einen bunten Strauß aus überwiegend rockigen Sounds, ausgewählten Electroböllern und exotischen Paradiesvögeln darstellte. Dabei sollte auch dieses Wochenende wieder so einige Überraschungen bereit halten. Im Positiven wie auch im Negativen.

Nachdem ich 2008 infolge des immer strenger werdenden Pressereglements erst vor Ort über die Nichterteilung eines Fotopasses für den Graben informiert wurde, war es für mich danach an der Zeit dem Hildesheimer Spektakel eine wohlverdiente Auszeit zu gönnen. Zu tief saß der Stachel der Ablehnung und die Art, wie man mich (und viele andere langjährige Supporter des Festivals) nach all den Jahren abgesägt hatte. Dabei hätte mir doch von vorn herein klar sein müssen, dass ein Skorpion  meistens dann den Stachel ausfährt, wenn man es am wenigsten erwartet.

Lange Schmerzen - kurzer Stich, verfehlte das selbstverordnete Trennungsjahr seine heilende Wirkung nicht und so fand ich mich am Morgen des 07. August im Vollbesitz meiner inneren Mitte auf dem (Hottelner) Weg Richtung Check in, wo die freundliche Containerbesatzung sogleich ein Bändchen für mich bereit hielt. Als interessantes Detail am Rande bat man mich als Gast des Hauses zum Ausgleich für das Eintrittsgeld eine kleine Spende in Höhe von 5 Euro für die Aktion „Viva Con Agua“ zu spenden. Den Heiermann war mir der Spaß selbstverständlich wert. Unterstützt man doch damit den Kampf um sauberes Trinkwasser in Afrika. Und auch auf dem Platz befanden sich diverse Stationen wo man gegen Abgabe seines Pfandbechers etwas für diesen zweifelsfrei guten Zweck tun konnte.

Frohen Mutes über den Zeltplatz strabolkernd, vorbei an dem inzwischen zur festen Institution gewordenen Mittelaltermarkt, blieb dank früher Ankunftszeit noch ein Moment um die Atmosphäre des Flugplatzgeländes aufzusaugen und sich darüber klar zu werden, dass das alljährliche Festivaltreiben in Hildesheim ein weiteres mal kurz vor seiner Eruption stand. Dabei hatte man seitens der Orga mittlerweile auf dem Gelände einige Änderungen vorgenommen. Die Händlermeile war erheblich geschrumpft, dafür standen an mehreren neuralgischen Punkten nun offene Zelte mit Biergarnituren, welche Schatten und Sitzmöglichkeiten für die Besucher boten. Bei rekordverdächtigen 24.000 Musikfans zwar nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Dennoch eine nette Geste. Ferner hatte man die Autogrammstunden vom Sonic Seducer Stand am Hang abgekoppelt und damit die störende Besucherschlange aus dem Zulauf des Hangars genommen. Signiert wurde neuerdings links von der Hauptbühne, wo die wartenden Fans niemandem mehr im Weg standen. Warum eigentlich nicht gleich so?! Auch das Pressezelt war vom Hang verschwunden. Stattdessen durfte sich der gemeine Vipler nun durch ein Tor hinter die Kulissen schleichen und das Airport-Lokal im Tower unsicher machen – feste Toiletten inklusive. Der Hang indessen wirkte ungewohnt aufgeräumt und bot den Besuchern massenhaft Platz zum Herumlümmeln auf der großflächigen Wiese. Eine Gelegenheit die angesichts des sonnigen Wetters und angenehm sommerlicher Temperaturen gerne in Anspruch genommen wurde.

Auf der Hauptbühne regte sich inzwischen erste Aktivität. Vor einem durchaus zahlreichen Publikum wagten sich die per online Voting ermittelten Newcomer Unzucht ins Rampenlicht und spielten ein kurzes Set deutschsprachigen Gotenrocks. Dass mit Unzucht ausgerechnet der Formation um Frontmann Daniel Schulz die Ehre des Auftritts zuteil wurde, hinterließ bei mir einen merkwürdigen Beigeschmack. Nicht nur dass hier eine Band aus der näheren Umgebung das Rennen gemacht hatte, vielmehr die Tatsache dass Herr Schulz bereits zweimal mit seiner ex-Band „Pinkostar“ auf dem M´era Luna vertreten war, führte für mich den Begriff „Newcomer“ ein wenig ad Absurdum. Letztlich änderte dies aber nichts daran, dass die Jungs ihre Sache gut machten und das Publikum mit Songs wie „Meine Liebe“, Schwarzes Blut“ und „Engel der Vernichtung“ nach Kräften unterhielten. Ob sich Unzucht, ähnlich wie ihre artverwandten Kollegen Zeraphine, langfristig etablieren können muss sich zeigen.

Im abgedunkelten Hangar schlug derweil die Stunde für die Sons of Seasons. Der persönliche Ableger von Kamelot Keyboard Hexer Oliver Palotai wäre mit seinem straighten Metal Sound dann aber doch besser auf dem parallel stattfindenden Wacken Open Air aufgehoben gewesen. So mühte sich das Gespann um Sänger Henning Basse (Metalium) weitgehend vergeblich dem überschaubaren Publikum mit ihrem Sound beizukommen. Auch ein hurtig herbei gezaubertes Prinzesschen im Brautkleid änderte nichts an der Mission Impossible, den Laden in gerade mal 20 Minuten aus der Lethargie zu reißen. Stattdessen durfte man sich als geneigter Zuhörer berechtigter weise fragen ob das schon alles gewesen sein sollte, als die Band unvermittelt die Instrumente ablegte, um ihre Koffer zu packen. Ein äußerst merkwürdiger Einstand!

Anders erging es dagegen den Strategen von Lord of The Lost. Neigt man auf dem Papier schnell dazu die Hamburger in die Kategorie solcher „Schönlingscombos“ á la „Negative“ und „Down Below“ einzusortieren, überraschten die Mannen samt Frontmann Chris „The Lord“ Harms mit unerwarteter Heavyness. Zwar erfanden die Herren das Rad des Duesterrocks keinesfalls neu, doch die Schau hatte zumindest genügend Biss, um auch den ein oder anderen Gotik-Bravo Negierer an die Hauptbühne zu fesseln. So gab Herr Harms sprichwörtlich sein letzte Hemd, um fortan (den Damen wird es recht gewesen sein) mit blanker Brust auf dem knappen Laufsteg-Ansatz herum zu turnen. Auf allen Vieren, dem Feind ins Antlitz, robbte er sich Zähne fletschend bis an die 

Kante vor und legte dabei eine Energie an den Tag, die manch einer der oben genannten Schlüpfercombos gut zu Gesicht gestanden hätte. Kurzweilige Unterhaltung, wie man sich gerne mitnimmt.  Gar nicht mal schlecht und für das gelungene Lady Gaga Cover („Bad Romance“) gibt’s Zusatzpunkte. In diesem Sinne: Sex on Legs... weiterrocken an der Waterkant!

So viele schöne Leute hier, doch damit ist jetzt Schluss“ dieses ASP-Zitat könnte unter dem Auftritt der Mittelalterrocker Rabenschrey stehen, die es mehr mit der „Schelmishen“ Weisheit „Wir sind fett und hässlich, doch dazu können wir stehen“ zu halten. Leider färbte die erdige Natur des Mittelalters nicht im Geringsten auf das Publikum ab. Während Bands wie Saltatio Mortis, In Extremo, die Letzte Instanz und Subway to Sally bereits durch ihr bloßes Erscheinen für Aufruhr sorgen und mit einem Fingerzeig die Massen in Bewegung setzen, spielten Rabenschrey regelrecht gegen eine Wand und lieferten damit ein gutes Indiz für die vorherrschende Übersättigung im Mittelalter Genre. Da half auch der unmotiviert vor sich hin spuckende Flammenzauber nichts. Der ruppig grölende Gesang, gepaart mit strammen Heavy Riffs vermochten nicht zu zünden! Zu destruktiv, zu unfröhlich der Sound für eine Spielmannscombo. Und so konnte sich Ober-Rabe „Donar“ gegen Ende der Spielzeit einen bissigen „Schrey“ der Marke „wenn Ihr schon nicht richtig mitmacht, dann schenkt uns wenigsten Euren Dank“ nicht verkneifen. Sympathischer machte das die Kapelle allerdings auch nicht.

Eben noch im mittelalterlichen Rock-Spektakel setzte es auf der Mainstage nun Kontrastprogramm, mit dem abgedrehten Elektro Sound Kutter der Australier „Angelspit“. Da ich mir nach einem Clubauftritt der beiden Australier in etwa ausmalen konnte, wie verloren das Duo auf der riesigen Open Air Bühne wirken musste, zog ich es vor die nächste Begegnung mit Front-Leckerchen DestroyX auf einen noch unbestimmten Clubabend zu verschieben.

Die nächste Hausnummer auf der Mainstage waren die omnipräsenten und stets wiederkehrenden Lacrimas Profundere. Die bayrischen Goth-Rocker mit der originellen Stilbezeichnung „Rock´N`Sad“ dürfen wahrlich auf keinem größeren Festival fehlen, auch wenn es für den endgültigen Durchbruch bisher nie gereicht hat. Die mag möglicherweise an dem recht austauschbaren Sound der Jungs liegen, der ihnen seit den letzten drei Alben verstärkt anhaftet. Ein bisschen Sisters hier, ein bisschen 69 Eyes dort, fehlt es seitdem an Eigenständigkeit. Noch dazu möchte man Sänger Rob Vitacca nicht selten zurufen, doch mal das Handtuch aus dem Mund zu nehmen, damit man ihn besser versteht. Zuweilen nuschelt der Herr doch gerade bei den Tiefen tönen recht deutlich in die Muschel, was zumindest bei mir schnell zur Spaßbremse ausartet. Heute erwischten Lacrimas einen guten Tag. Zwar schaute Gitarrist Oliver Nikolas mitunter etwas griesgrämig drein, dafür poste sein Konterpart Tony Berger in gewohnter Manier vor dem Publikum während Rob mit wachsender Begeisterung den Laufsteg für sich in Beschlag nahm.

Launige 20 Minuten später drängte mich der eng gesteckte Zeitplan leider von der kurzweiligen Hauptbühnenbespaßung hinein in den Hangar, wo als nächstes eine Band mit ungleich höherem Originalitätsfaktor auftreten sollte: Faith & The Muse. Mein letztes Aufeinandertreffen mit der britisch-amerikanischen Freundschaft von William Faith und Monica Richards ist schon eine ganze Weile her. Genauer gesagt, datiert sie auch den Sonntag des Wave Gotik Treffens 2003, kurz vor Veröffentlichung ihres Albums „The Burning Season“. Seither scheint sich innerhalb der Band eine Menge verändert zu haben. Angefangen bei William Faith persönlich, dessen Zeiten als wandelnder Bettvorleger (M´era Luna 2000) und aufgeplatztes Sofakissen (WGT 2003) der Vergangenheit angehören. Stattdessen checkte gerade ein adretter Herr im Anzug nebst schneidiger Sonnenbrille und Mohawk samt Kriegsbemalung die Instrumente. Erstaunlich auch, wie der früher eher rundliche Kalifornier inzwischen zum Gardemaß gefunden hat. Dazu konnte man nur gratulieren. Und auch musikalisch hat sich etwas getan. Neben dem Einfluss der japanischen Kultur (Taiko Trommeln) mischten sich auch einige Musiker von Christ vs. Warhol in das Band-Line Up, welche neben den typischen Rockelementen auch Chello und Drum-Elemente beisteuerten.

Ihr fragt Euch nun sicher „Wozu die lange Vorrede“? Ganz einfach: der Line Check des beachtlichen Instrumentariums zog sich und zog sich und zog sich. Ein Umstand der die Band noch teuer zu stehen kommen sollte. Mit mindestens 10minütiger Verspätung starteten Faith & The Muse in ihr Set, als voluminöse Trommelklänge den Hangar erfüllten und Monica Richards von links auf die Bühne schwebte. Sogleich zog die aufwändig kostümierte Sängerin die Blicke auf sich und nahm das Publikum mit ihrer samtweichen Stimme gefangen. Ein bisschen „Ankoku Butoh“, ein bisschen „Evidence Of Heaven“, ein wenig von „The Burning Season“, so mischte sich das abwechslungsreiche Set der Band. Mal im Stillen, mit Streichern und dezenter Instrumentierung, dann wieder kraftvoll rockend im Stile von „Scars Flown Proud“, dass den Meisten im Saal noch am geläufigsten schien. Traumhaft inszeniert, zum Schwelgen schön! Doch gerade als man sich so richtig eingegrooved hatte, nahte bereits das Unheil. So kam William Faith gerade noch dazu seinen „Cernunnos“ (Elyria)kraftvoll in die Menge zu schmettern, als die zwischenzeitlich entschwundene Monica mit einer eindeutigen Geste der Marke „krrks – Hahn zu!“ das vorzeitige Ende der Show einläutete. Für ein knappes „Sorry, time´s up!“ war noch zeit, dann wurde die Band, begleitet von lautstarken Zugabe-Rufen, gnadenlos von der Bühne gefegt! Verdammte Sauerei!

Open Air rödelte sich parallel gerade noch Alex Kaschte, alias Samsas Traum die Stimmbänder wund. Was mich keineswegs über das abrupte Ende eines traumhaften Auftrittes hinweg tröstete. Stattdessen verkrümelte ich mich für eine Weile in den VIP Bereich, von wo aus ich anschließend dem närrischen Treiben der Stolen Babies - wenigstens durch eine Glasscheibe geschützt -  beiwohnte. Der US Import aus dem fernen Los Angeles nahm es mit der Verspieltheit sehr genau und verwandelte die Hauptbühne in ein Kinderzimmer, wo die kleinen Zinnsoldaten zur großen Parade aufmarschierten. Nebst schwarzgetüllter Gothic Bella Bimba am Mikro und Schifferklavier, bot die Band im Laufe der 45 Minuten ein krudes Spektakel dass besser in ein Zirkuszelt gepasst hätte als auf die Hildesheimer Hauptbühne. Sorry guys, das war gar nichts!

Die slowenischen Urgesteine Laibach, immerhin schon seit stattlichen 30 Jahre im Geschäft, hätten  wenig später das Ruder lässig herum werfen können. Zumal die markante Knarz-Stimme von Sänger Milan Frás schon außergewöhnlich genug ist, um einem den Tag zu versüßen. Scheinbar war das Künstlerkollektiv aber heute auf Stunk aus. Gewillt die konzeptionell unvorteilhafte Spielposition bei prallem Tageslicht mit einer unmöglichen Songauswahl vollends zu versenken. Dabei fing doch alles so fröhlich an: minutenlang schollen Marschgesänge („Heiiii Di Heiiii Do Hei Da...“) aus den Boxen, bis sich der Laibach Tross zäh wie eine glühende Lavawalze in Bewegung setzte. Bei Stücken wie „Smrt za smrt“ und „Brat Moj“ tat sich im weiten Rund rein gar nichts und Milan machte keine Anstalten irgendeiner Regung. Kalt und leblos klebte er an seinem Mikro, schaute nichtssagend in die Menge oder drehte ihr von Zeit zu Zeit den Rücken zu. Eine Viertelstunde lang ließ sich der Mob das Spiel gefallen, bis die ersten Buhrufe in Richtung Bühne geschleudert wurden. Die Vereinigung „Neue Slowenische Kunst“ ließ sich dadurch jedoch keineswegs beirren und bot stattdessen lieber ein Repertoire an umgemodelten Nationalhymen feil, als dem Publikum die erhofften Klassiker wie „Opus Dei“, „Alle Gegen Alle“ oder „The Final Countdown“ zu kredenzen. Kunst darf das, war man der Meinung, und ging damit auf direkten Kollisionskurs mit dem Publikum. Erst zum Abschluss erbarmte man sich zum „Tanz mit Laibach“. Eindeutig zu spät um diesen Auftritt noch zu retten. Nächstes mal bitte direkt in den Hangar, wo Laibach ihr künstlerisches Potential entsprechend ausschöpfen können!

Von enttäuschenden Slowenen hin zu berauschenden Briten. Eigentlich zähle ich mich ja eher zu den EBM-Muffeln. Vor allem was die so genannten Helden der guten alten Zeit betrifft. Front 242, Leaether Strip, The Klinik, Nitzer Ebb. Für mich zumeist Bücher mit sieben Siegeln. Kulturbanause soll man mich schimpfen und ich sage noch „Recht so!“. Man muss ja nicht alles mögen. Dennoch passierte Anfang des Jahres etwas erstaunliches: Nitzer Ebb veröffentlichten nach Jahren der Funkstille ihr Comeback-Album „Industrial Complex“, dem auch ich mich nicht entziehen konnte. Fette Grooves, moderne und klassische Soundelemente perfekt verknüpft und über allem ein Douglas McCarthy der neben seiner Tätigkeit als Shouter auch seinen Gesang kultivierte. Nicht minder leidenschaftlich gestaltete sich die Show der Briten auf dem M´era Luna. Wo Augenblicke zuvor Laibach noch kläglich versagt hatten, packten Bon Harris, Jason Payne und Douglas McCarthy den Stier bei den Hörnern und fuhren mit ihm eine satte Stunde lang Schlitten. Zünftig ging es her beim Panzertanz in den ersten Reihen. Elektrisierend auch die Performance des wie aufgedreht umher tanzenden Frontmannes. Dabei hatte McCarthy (wie immer mit schneidigem Messerschnitt und dicker Sonnenbrille) Stiefel und Reiterhose in den Schrank gehängt, um heute als Gentleman mit Anzug und Lackschuh elegant über die Bühne zu toben.

Wie bereits angedeutet hatte das Publikum der Power aus den Boxen nichts entgegen zu setzen. Kopfüber ins Vergnügen, verwandelte sich der Platz in Windeseile in ein EBM-Tollhaus während Harris und Payne den Beat in die Felle prügelten und McCarthy die verbale Peitsche schwang. Widerstand zwecklos: „Down on your knees and let your body learn!“

Dass bei einem Festival Line-Up mitunter Gegensätze aufeinander prallen zeigte sich nach dem anschließenden Bühnenwechsel. Eben noch mit knallhartem EBM beschallt, folgte für Szene Puristen nun der mediale Supergau. Einst als sympathischer Gotik-Onkel von Nebenan bekanntm ist „Der Graf“ alias Unheilig seit Anfang des Jahres zu einem unausweichlichen TV Ungetüm mutiert. Von „The Dome“ über „Big Brother“ und die „Schlager Grand Prix Party“, bis hin zur öffentlich rechtlichen Talkrunde („3 nach 9“) und einem Sonderauftritt bei „Gute Zeiten, Schlechte Zeiten“, ließ der neue deutsche Superstar keine Format, kein Fettnäpfchen und keine Gelegenheit aus, seine Musik telemedial zu vermarkten. Selbst MTV schenkte Unheilig 50 Minuten werbefreie Screentime für einen kompletten Live Auftritt. Na wenn das mal nichts ist! Sogar an diesem Abend ließ es sich Haussender RTL II nicht nehmen, sein aktuelles Maskottchen in der „Neuen Deutschen Hitparade“ den Schlagerfreunden zum Fraß vorzuwerfen. Umso erstaunlicher, dass Unheilig der Spagat zwischen Mainstreambespaßung und Szenefestival noch immer gelingt. Allen Unkenrufen zum Trotz hatte sich der Platz vor der Hauptbühne inzwischen auf ein ungesundes Maß gefüllt. Selbst die Seiten, an denen man sich zuvor noch locker bewegen konnte, hatten sich mit erwartungsfrohen Menschen gefüllt, denen der „gute Laune Gothic“ längst nicht so zuwider war, wie der viel beschworene Szene Ethos es hätte vorgeben sollen. Ganz im Gegenteil! Der Graf und sein Nummer 1 Album „Grosse Freiheit“ waren für viele das heimliche Highlight des Tages.

Eingestimmt von U-Bootfahrer-Romantik, Marlene Dietrich Klängen und Hans Albers` legendärer Ode an die „Reeperbahn, nachts um halb 1“ lautete nach mehreren Schiffshörnern und den Ansagen von Bordkapitän Bernd Heinrich das Kommando „Leinen los und willkommen an Bord der Großen Freiheit“:

Was das Publikum schließlich aufgetischt bekam, war eine routiniert vorgetragene Unheilig Show wie man sie auch von Früher kennt. Einziger Unterschied: neben der Kerzendeko sorgten nun ein Schiffsbug und eine Leinwand mit Live- bzw. Clipeinspielern für zusätzliche optische Akzente. Die Songauswahl fing dabei stark an („Seenot“ / „Spiegelbild“), erhöhte anschließend aber die Dosis Weichspüler jenseits der Schmerzgrenze. Eine Ballade jagte die Nächste, was auf Dauer zu leichten Ermüdungserscheinungen führte. Glücklicherweise erinnerte sich der Graf rechtzeitig daran auf einem Gothic Festival zu sein und lockerte das Geschehen mit „Maschine“, „Sage Ja“ und „Freiheit“ durch ein paar Uptempo Klassiker auf. Auch die aktuelle Single „Für Immer“ lud zum kollektiven Wohlfühltanz ein, bevor der unausweichliche Überhit „Geboren um zu Leben“ („Ich koche um zu Essen“) die Feuerzeuge im weiten Rund aufflammen ließ.

Der Sturmlauf wider den Ausverkauf der Szene blieb wie befürchtet aus. Stattdessen zeigte sich einmal mehr, dass ein paar wenige Puristen auch innerhalb der Gothic-Szene nichts gegen den Geschmack der breiten Masse ausrichten können und umgekehrt die Medienpräsenz einer Band vollkommen egal ist, solange man noch genügend Leute damit erreicht. Sollten Unheilig tatsächlich eine Band sein, die vom Schlagerfan bis zum Panda-Gruftie jeden für sich gewinnen kann? Es sieht ganz danach aus!

Merklich eigenwilliger ging es hernach beim offiziellen Headliner des Tages zu. Die Sisters Of Mercy sind nun wahrlich nicht für ihre Publikumsnähe bekannt. Stattdessen tauchen die britischen Goth-Rock Veteranen nur zu ausgewählten Anlässen auf, um sich auch dabei noch hinter einer undurchsichtigen Nebelwand zu verstecken. Wohl dem, der gar einen Blick auf Mastermind Andrew Eldritch erhaschen kann. Ungeachtet der zum Kult avancierten Marotten steht der Name Sisters Of Mercy für zahllose stilbildende Klassiker, die aus keiner Indie Disco mehr wegzudenken sind. Ob „Vision Thing“, „This Corrosion“, „Lucretia My Reflection“, „More“ oder das legendäre „Temple Of Love“, selten wurde eine Band so oft kopiert und so selten erreicht wie die gnadenvollen Schwestern.

Nicht minder kultig als die Verschleierungstaktik der Liveshows ist auch die nunmehr fast 2 Jahrzehnte anhaltende Studiopause der Briten. Immer mal wieder gibt es Gerüchte über neues Material, doch letztlich bleiben die Herren weiter abstinent und verlegen sich, zynisch gesagt, live darauf ihr Best of „A Slight Case Of Overbombing“ mehr oder weniger zur Gänze Stück herunter zu nudeln. Das mag nicht unbedingt kreativ sein aber zumindest bei einer Band vom Schlage der Sisters erwies sich das Konzept auch dieses mal wieder als äußerst effektiv. Besorgniserregend waren lediglich die merkwürdigen Juchzer aus Eldritchs Munde, die gegen Ende Des Sets den Eindruck erweckten, Kermit der Frosch hätte sich heimlich hinter die Nebelwand geschummelt. Ansonsten blieb ob des erstaunlich sauberen Sounds wieder mal die Frage, wie viel Live tatsächlich in der Show steckte und ob die Sisters eines Tages vielleicht doch noch ihr untotes Dasein ablegen, um mit frischem Material die Karten nochmal neu zu mischen.

Nachdem die Sisters gewohnt kommentarlos die Bühne verlassen hatten (dagegen ist selbst ein Carl McCoy noch redselig), machte ich mich auf den Heimweg um Kraft für den morgigen Sonntag zu tanken. Schließlich warteten mit Placebo, In Extremo, Hanzel & Gretyl und vielen anderen Bands noch eine Menge interessanter Auftritte, die es intensiv zu erleben galt. Der erste Festivaltag bot zwar musikalisch Licht und Schatten, dank des beständigen Sommerwetters entfaltete sich jedoch eine tolle Festivalatmosphäre die ich nicht hätte missen wollen. Was der Sonntag bereit hielt lest Ihr im zweiten Teil des großen M´era Luna 2010 Rückblicks.

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