09. & 10.08.2008 - 9. M´Era Luna Festival (Hildesheim_Drispenstedt, Flugplatz)

Eine Stadt sieht schwarz! - Hildesheim und der Tanz der lebenden Toten...

Ein Flugplatz im beschaulichen Hildesheim-Drispenstedt. Für gewöhnlich Menschen eine Heimstatt für Flugschüler und Hobbypiloten, zeigt sich das Areal von einer anderen seite. Einmal im Jahr kommen sie: Die lebenden Toten! 20.000 an der Zahl, nennen sie es ihr „M´Era Luna Festival“, oder einfach nur „schwarzes Familientreffen“. Bereits seit 1997 (Damals noch Zillo Festival) wiederholt sich nunmehr das düstere Schauspiel aus schwarzer Kleidung, düsterer Musik im Schaulauf der schwarz-grauen Eitelkeit.

Styling ist unheimlich wichtig!“ erklärt die 19 Jährige Christina aus Oberursel. „Manche verbringen mehrere Stunden vor dem Spiegel für das richtige Outfit“. Dabei gehört Christina unter den Anhänger der schwarzen Szene selbst zu den “schwarzen Schafen”. Ein Gewirr aus neongelben Schläuchen ziert ihre aufwändige zerzauste Frisur, dazu ein weiße Cargo-Hose, gespickt mit Rosa Flokati-Fransen, Mundschutz und einer handelsüblichen Schweißerbrille. „Die Szene ist unheimlich Tolerant und aufgeschlossen gegenüber neuem“, erklärt Christina: „Das nennt sich Cyber-Gothic und ist total angesagt!“.

Doch die Schwarze Masse zeigt sich davon unbeeindruckt. Irgendwie macht hier jeder wonach ihm ist. Wie etwa „die muskelbepackten EBM-Typen“, wie Christina erläutert. „EBM das bedeutet Electro Body Music“ und charakterisiert sich vor allem durch monotone Schläge, gepaart mit hartem militärischem Drill. Dazu tanzen die EBM-Krieger, in Tarnhosen, Springerstiefeln und manch fragwürdiger Uniform. „Erlaubt ist was hart macht oder provoziert!“ schildert Electrofan Andreas in perfektem Sächsisch. Für ihn ist der Treff in Schwarz ein Ausstieg aus dem Alltag. Hier kann der 32jährige Bankangestellte seinen „Dampf ablassen!“, wie er es selbst Formuliert. Hier darf er ganz er selbst sein.

Wiebke (25) aus Berlin hat eine Vorliebe für viktorianische Kleidung. Einer Porzellanpuppe aus dem späten 19ten Jahrhundert nicht unähnlich, präsentiert sie stolz ihr neues Outfit: „Das nennt sich Victoriandustrial und ist total schick!“ gibt sie stolz zu verstehen während sie über zerschlissene Strumpfhosen, viel Schminke und einen abgelegten Reifrock ihrer Ur-Großmutter sinniert.

Ist am Ende doch nicht alles so schwarz wie auf den ersten Blick aussieht. Schrill scheint in diesem Jahr Trumpf auf dem Festivalgelände des M´Era Luna. Da laufen bunte Irokesen, Lila-Rot-gesträhnte Mädchen im aufreizenden Mini, Fans von Latex, Lack und Leder. Ein Sodom und Gomorrha, in dem die Gesetze der Normalität keine Anwendung zu scheinen finden!

Wilhelm Müller (78) beobachtet das Spektakel schon seit Jahren: „Diese jungen Leute sind doch immer so nett“. „Ich sehr mit das gerne an“ fügt er lächelnd hinzu, während es auf dem Platz allmählich ernst wird. 40 Bands hatte das Hamburger Konzertbüro FKP Scorpio in diesem Jahr eingeladen, um die 23.000 Besucher an beiden Tagen mit düsterer Musik zu unterhalten.

Bei einem Blick auf die Bühnen wird klar: Das Spiel aus geben und nehmen funktioniert hier genauso, wie auf gewöhnlichen Konzerten. Ein Künstler nimmt das Heft in die Hand und die Menge feiert. Egal ob Open Air oder unter dem Dach eines Flugzeughangars, wenn der Meister befiehlt heben alle auf Kommando die Hände und klatschen mit. Ob die Bands dabei Tanzwut, Unheilig, Saltatio Mortis oder Scooter, Jürgen Drews und Wolfgang Petry heißen, ist letztlich nur eine Frage des persönlichen Geschmacks.

Und so wogt Hildesheim an diesem Wochenende im Tanz der lebenden Toten. Die Stimmung bleibt dabei vorerst gedrückt. „Man feiert hier nicht gern bei Tag. Erst nach der Dämmerung erwachen die Seelen der Nacht“ erklärt Vampirdame Jenny, bevor sie in die Halbdämmerung des Hangars entschwindet. Hier an der zweiten Bühne herrscht reger Andrang. Die Berliner Formation „Agonoize“ hat gerufen und liefert ein bizarres Schauspiel aus Kunstblut und orgienhaften Texten.„Fick mich noch einmal, heut´ Nacht“, brüllt der Frontmann in sein Mikrofon, während seine Kollegen in American Football-Schützern unkontrolliert auf zwei Keyboards eindreschen. Doch die Menge tobt!

Nach dem Konzert treffen wir Jenny wieder. „Die Jungs sind der Hammer! Einfach Kult!“, versucht Sie den Auftritt in Worte zu fassen. Sie hat getanzt, ihr Kajal ist verlaufen und die weiße Schminke von kleinen Rinnsalen durchzogen. Jetzt will sie nur noch zurück in ihr Zelt - sich nachschminken!
Doch Jenny kommt nicht weit. Ein Stau am Eingang unterbricht jäh die schwarze Harmonie. Es kommt zu Spannungen zwischen denen die raus und jenen die rein wollen. Zum ersten mal an diesem Wochenende müssen die Ordner einschreiten, um Schlimmeres zu vermeiden. Und so regelt schon wenig später ein Trenngitter den separaten Ein und Ausgang an der völlig überfüllten Halle. Ganz ohne Regeln geht es dann eben doch nicht.

Deutlich entspannter geht es dagegen an der Hauptbühne zu. Für die „Inselaffen“ von New Model Army (O-Ton Justin Sullivan) interessiert sich am heutigen Tage kaum jemand. Dabei gastieren die Indie-Rock Ikonen nicht zum ersten Mal in Hildesheim. Gespannter wartet die Schwarze Gemeinde da schon auf den abschließenden Auftritt der britischen Band „Fields of the Nephilim“, während zum Abschluß im Hangar die Neue Deutsche Welle-Helden „DAF“ die Bühne mit minimalistischem Viervierteltakt-Geklopfe unsicher machen. Es tanzt der Mussolini, als wärs das letzte Mal.

Vampirdame Jenny ist inzwischen zurück aus ihrem Zelt. Sie freut sich jetzt auf die Aftershowparty. „Da kann ich mal so richtig abtanzen“, schwärmt sie von der nächtlichen Disco-Veranstaltung im Hangar hinter der Bühne. Elektronische Klänge sind hier in der Übermacht und das überwiegend Junge Partyvolk lässt sich von mal mehr, mal weniger talentierten Discjockeys zum feiern animieren. Doch weit über die Party hinaus, steht auch hier das sehen und gesehen werden im Vordergrund, als ginge es um eine schicke Münchner VIP-Party und nicht um eine schnöde Flugzeughalle um betulichen Hildesheim.

Veranstalter FKP Scorpio zieht derweil eine positive Bilanz der zweitägigen Veranstaltung: „Wir sind sehr zufrieden und freuen uns, dass wir, wie die Besucherzahlen zeigen, mit dem M'era Luna auch im neunten Jahr ganz klar zu einem der wichtigsten „Gothic Events" in Europa gehören. Und wir wünschen uns auch 2009 wieder Besucher aus der ganzen Welt, die mit uns ein friedliches und stimmungsvolles Festivalwochenende in Hildesheim verbringen wollen". „Nur am Wasserdruck für die Sanitäranlagen müssen wir arbeiten. Aber da werden wir bis zum nächsten Jahr mit der Stadt Hildesheim sicherlich eine Lösung gefunden haben“, spricht Geschäftsführer Folkert Koopmans, die Hausaufgaben des Festivals an, die er bis zum kommenden Jahr lösen will.

2009 feiert das M´Era Luna Festival sein 10jähriges Jubiläum, und sie werden wiederkommen, nach Hildesheim, zum dunklen Tanz der lebenden Toten!

Geschrieben von: Elmar Herrmann

Nachwort:

Qualität und Liebe zum Detail sind bei der Berichterstattung Anno 2008 beim M´Era Luna offenkundig nicht mehr von belang. Stattdessen dürfen sich immer stärker Tageszeitungen und Zeitpresse in szenejournalistischem Dilettantismus üben, oft sogar noch schlimmer, als Ihr es eben gelesen habt. Es dreht sich nur um Tempo und Auflagen, für jene Leser, die ein Event wie das M´Era Luna wahrscheinlich nie besuchen und erst recht nie begreifen werden. Das Wesentliche bleibt dabei auf der Strecke: DER FAN!

Auch die bemüht formulierten Dreizeiler über Bands, in den Spitzenmagazinen der Szene, können das Gefühl eines Festivals nur schwer einfangen und werden den Auftritten der Künstler nur selten gerecht. Nachdem meine ausführlichen Berichte in den letzten Jahren immer sehr gut ankamen, war in diesem Jahr aber auch für mich das Ende der Fahnenstange erreicht und ich flog, wie viele langjährige Kollegen (zunächst) aus dem Kader des alljährlichen Grabenkampfes, damit “wichtigere” Kollegen dort weiter in Ruhe ihr Bier trinken können.

Wer nicht mit der Zeit geht, geht irgendwann unter und so habe ich mich dazu entschieden meinen Bericht über das M´era Luna 2008 in genau jenem Stil abzufassen, der derzeit Schule macht. Sei es als Mahnmal für zukünftige Generationen oder als Hilfeschrei einer immer stärker verwesenden Szenekultur!

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