08.08.2010 - M´era Luna Festival 2010 - Teil 2 (Hildesheim-Drispenstedt)

Aufgewacht, aufgewacht ein neuer Morgen lacht! Matschige Augen, morsche Knochen, das sind die üblichen Zutaten für eine Auferstehung zum zweiten Tag eines Festivals. Gegen einen fiesen Hangover hilft daher nur eins: ab unter die Dusche und ein Starker Kaffee zum wach werden. Widerwillig schälte ich mich aus den Federn unter das kühle Nass, um die verbrauchten Lebensgeister zu reaktivieren. Mit mäßigem Erfolg! Viva la Hangover...aber das hat man halt davon wenn man irgendwann morgens um 4 in die Horizontale kippt. Das Wetter hatte sich am gestrigen Tage ebenfalls verausgabt. Ein bedeckter Himmel mit unfreundlich dreinschauenden Wolken kündete vom bevorstehenden Regen. Ergo entschied ich mich zur Sicherheit für wetterfeste Klamotten als ich um kurz nach 10 zur Haustür hinaus ging. Keine Minute zu früh, wie die ersten Tropfen von oben bestätigten.

Die Stunde Fahrt nach Drispenstedt absolvierte ich mit Gedanken an den erlebten sowie den bevorstehenden Festivaltag, bis ein anderes, weitaus größeres Festival sich ins Gedächtnis rief. Kaum hatte ich die A7 Richtung Kassel erreicht, schwirrten überall Autos mit dem Schriftzug „W:O:A“ um mich her, die von der großen Abreisewelle des Samstag beendeten Wacken Open Air kündeten. 6, 7, 8 Autos schwer düsten eins nach dem anderen an mir vorbei. Was an diesem Morgen ungefähr jedem 5ten Fahrzeug entsprach. Nicht schlecht für ein Festivalevent von der Größe einer mittleren Kreisstadt. W:O:A - Rain Or Shine! Ein gute Brücke zum heutigen Wetter, dass sich ebenfalls nicht so recht entscheiden konnte was es werden wollte und daher einen Mix aus dezentem Getröpfel und sonnigen Momenten zusammengebraut hatte. Als ich auf meinem Lieblingsparkplatz ankam stipperte es nach wie vor leicht. Da ich heute keine schwere Technik zu beschützen hatte, störte mich das nicht weiter.

Auf dem Campingplatz wurde ich dafür Zeuge eines interessanten Schauspiels. Vor mir stapfte in bester Neil Armstrong Manier eine  junge Dame mit wuchtigem Backpack über den Acker. Auf dem Rücken eine mobiler Thermostank. Von Zelt zu Zelt hausierte sie nun mit der Frage ob ein Becher Schwarzgold gewünscht sei. An einem Morgen wie diesem erlebte auf diese Weise so manch einer seine persönliche Mondlandung.

Auf dem Mittelaltermarkt lungerten bereits die ersten Seelen umher, um sich mit rustikaler Kost für den bevorstehenden Tag zu stärken. Eine gut besuchte Shisha-Bar zur Linken, Mutzbraten zur Rechten liess es sich hier durchaus aushalten. Wenn bloß die Zeit nicht immer so drängen würde. In diesem Fall gemahnten die in der Ferne aufgeigenden Horrorpunker „The Other“ zur Eile sich beizeiten auf den Platz zu begeben. Leider standen Kölner Gruselrocker reichlich auf verlorenem Posten. Die Menschentraube vor der Hauptbühne beschrieb sich bestenfalls als „übersichtlich“. Noch dazu regnete es wie schon vor zwei Jahren, was den Zuspruch weiter schmälerte. Doch die Kölner nahmen es mit professioneller Sportlichkeit und zogen ihr Ding unbeirrt durch. Dabei hatten Chefzombie Rod Usher und seine Truppe mit dem Album „New Blood“ sogar ein paar frische Blutkonserven für durstige Goth-Vampire an den Start gebracht. Schade nur dass es kaum jemanden interessierte. Das Gehörte machte wie immer Lust auf mehr. Einzig der Rahmen wollte nicht so recht zum düsteren Gruselimage  der Truppe passen. Aber eine kölsche Frohnatur kann so schnell nichts erschüttern!?

Mit „Erschütterungen“ wären wir dann auch schon beim nächsten Thema: die hierzulande eher unbekannten „Ambassador 21“ aus Minsk waren augenscheinlich angetreten um nicht nur das versammelte Publikum zu verstören sondern gleich den ganzen Hangar mit ihrem Sound in seine Bestandteile zu zerlegen. Was hier aus den Boxen bretterte war die mit Abstand perfideste Mischung aus brachialem Knüppel-aus-dem-Sack Industrial und holländischem Gabber, garniert mit dem rotzigen Gebell von „Riot Grrrl“ Natasha, die in bester Lucia Cifarelli (KMFDM) Manier in ihr Mikro schimpfte. Kollege Alexey Protasov überließ dem quirligen Blondschopf nach anfänglicher Offensive fast gänzlich das Feld und zog sich weitgehend hinter die Schraubknöpfe zurück. Das Ergebnis war indes verheerend: verwirrte Cyber-Typen, denen das Gehörte zu schnell ging um dazu die Keulen zu schwingen, erschrockene Gesichter bei der EBM Fraktion und ein paar Industrial-Jünger, die genau auf solch eine Rakete gewartet hatten. Im Zuschauerraum dabei ein stetiges kommen und gehen! Auf dem Boden die donnernden Beats aus den Boxen, die mit jedem Schlag den Hangar zunehmend ins Wanken zu bringen schienen. Knapp 20 Minuten lang beobachtete ich das aufgedrehte Schauspiel, bis der drang nach Harmonie auch mich zurück in die Freiheit trieb. Interessant war der Auftritt allemal, spezielle wenn einem danach ist, sich mal anständig die Trommelfelle durchpusten zu lassen.

Wieder zurück auf dem Platz blieb keine Zeit für eine Verschnaufpause. Auf der Hauptbühne hatten sich bereits „Punish Yourself“ breit gemacht. Nun ist die französische düster Szene nicht erst seit Banane Metalik und Rosa Crux für schillernde Exoten bekannt, doch was Punish Yourself hier auf die Bühne brachten, toppte alles was mir bis dato aus dem Land der Weissbrotstangen untergekommen ist:

Knallig-bunte Bodypaintings, ein wildgewordener Iro am Mikro, ein knallgrüner Frosch mit rhythmischer Sportgymnastik in pofreier Gay-Hose, eine Trennschleiferperformance und ein Ölfass, dass in den Farbtopf gefallen war... wenn jemals eine Band zu radioaktiven Testzwecken missbraucht wurde, dann wohl diese! Schade nur dass die Franzosen nicht in der Dunkelheit des Hangars auftreten durften. Den Strom für die Bühnenbeleuchtung hätte man sich locker sparen können.

Zur Freude der anliegenden Zuschauer verließ sich die Band nicht ausschließlich auf ihre abgefahrene Optik. Musikalisch boten Punish Yourself ein sehr gefälliges Industrial / Punk-Rock Spektakel, das einen schönen Gegenpol zum grellen Auftreten setzte. Ein bisschen Voodoozauber inklusive beendeten die schrägen Vögel ihr Set mit einer Feuerperformance und bewiesen, dass Schauwert und musikalische Qualität sich nicht zwangsläufig ausschließen. Kurz gesagt: ein positiv  bekloppter Auftritt der allen Zuschauern noch lange im Gedächtnis bleiben wird!

Nachdem Punish Yourself die Abgefahrenheitsskala in schwindelerregende Höhen getrieben hatten, schickte sich die nachfolgende Band an, die noch zu toppen: Hanzel und Gretyl. Doch bevor die Amerikaner (die übrigens schon seit 1993 ihr Unwesen treiben) auf die Bühne kraxelten, musste man sich gewahr werden, dass die bevorstehenden 40 Minuten nicht die Ausgeburt einer kranken Fascho-Combo, sondern das Produkt zweier durchgeknallter Protagonisten war, die antraten um mit leidenschaftlicher Hingabe die Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und deren Kulturgüter durch den Kakao zu ziehen. Chaplin´s „Großer Diktator“ in Form einer derben Industrial Metal Show, wenn man so will.

Dass der Deutsche an sich inzwischen gelernt hat über die düsteren Kapitel seiner Vergangenheit zu lachen, bewies die beachtliche Menschentraube vor der Hauptbühne, die das New Yorker Gespann mit großer Spannung in Empfang nahm. Mit Bierhumpen bewaffnet enterten Rotschopf Vas Kallas, (Preußen-)Kaizer von Loopy und Drummer Chris Kling die Bühne und leiteten mit der Ouvertüre ihr klanggewaltiges Riffgewitter ein. Die Hände zur Pommesgabel (uber alles) gen Himmel reckend, schlug die Stunde all jenen, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatten.

Während der „Kaizer“ anfangs die Regentschaft über die Bühne übernahm, wurde jedoch schnell klar wer hier tatsächlich die Hosen anhatte. Spätestens als Vas Kallas zum ersten mal ihre zarten Stimmbänder bemühte und in bester Angela Gossow (Arch Enemy) Manier in Mikro röhrte, dürfte auch dem letzten klar geworden sein was das Stündlein geschlagen hatte: „Fukken uber!“ ;)

Mit viel Druck und Spielfreude ließen die durchgeknallten Amis die Zeit wie im Fluge vergehen. Dabei überspielten sie mit roher Gewalt und humorigen Oktoberfest-Einlagen gekonnt, dass ihren musikalischen Mittel sich im Grunde auf dreieinhalb gepfefferte Riffs und einen Wortschatz von schätzungsweise 50 Deutschen Begriffen reduzierten von denen gefühlte 40 aus Schimpfworten und Bier bestanden. Genau diese naive Sinnfreiheit war es, die dem Auftritt seinen besonderen Charme verlieh. Ebenso wie die Ungestüme Art, mit der Kaizer von Loopy alias Hanzel die Axt im Wald gab. Völlig außer Kontrolle geraten versenkte er sein Mikro im Bühnengraben, rupfte Kollegin Vas selbiges vom Ständer, schmiss den Stengel dabei mit Karacho um und stolperte an der Schnur in Richtung Laufsteg, dass die Leine nur so spannte. Solange bis auch diesen Mikro ihm nicht mehr gefiel und er es donnernd auf den Boden pfefferte. Umher taumelnd rockte der falsche Preuße sich die Seele aus dem Leib, während seine zu Hilfe geeilte Backlinerin am Bühnenrand verzweifelt versuchte das abgestürzte Mikro aus dem Graben zu angeln. Ein Bild für die Götter – aber immerhin erfolgreich!

Auch im Dosenweitwurf und der Maßkrugdusche war der „Kaizer“ König! So segelten zum Abschluss der Show erst diverse (geöffnete) Bierdosen und dann seine Gitarre durch die Luft. Warum soll man auch nicht mal testen ob eine „Flying V“ wirklich fliegen kann?! Vielleicht hätte er nur vorher noch Red Bull drüber schütten sollen!

Wie ihr erahnt ließen sich mit der Schau von Hanzel & Gretyl ohne weiteres Bände füllen. Ob man das nun cool, prollig, oder einfach nur dämlich findet muss jeder für sich entscheiden. Die Stimmung auf dem gut gefüllten Platz erwies sich jedenfalls als blendend, gefolgt von obligatorischen „Zugabe“-Rufen. Und so versammelten sie die Akteure abschließend noch einmal auf dem Laufsteg, um sich, bis über beide Ohren grinsend, von ihrem Publikum zu verabschieden. Spätestens als man ihnen dabei ins Gesicht schaute sollte einem eines klar geworden sein: „Die wollten doch nur Spielen!“.

Ironie des Schicksals, räumten Hanzel & Gretyl die bierbesudelte Hauptbühne, um sie einer Band zu überlassen, der man nur ein Drittel dieses Temperaments wünschen würde. Dass Sven Friedrich mit Zeraphine eigentlich in einem Club besser aufgehoben ist als auf einer Open Air Bühne dürfte inzwischen hinlänglich bekannt sein. Zu allem Übel schickte sich auch noch die Sonne an hinter dem Wolkenschleier hervor zu kriechen, was auch noch das letzte Fünkchen trister Melancholie zunichte machte.

Zum Glück erwischten Zeraphine (heute mit neuen Album „Whiteout“ im Gepäck) einen ihrer besseren Tage und schafften es die zahlreich versammelten Fans in Wallung zu bringen. Bisweilen ließen sich gar erhobene Hände und rhythmisches Klatschen ausmachen, was auf Zeraphine Konzerten eher selten der Fall ist. Hilfreich waren vor allem die bekannten Hits der Band (No Tears / Die Wirklichkeit / Be My Rain), die das Geschehen immer wieder zu beleben vermochten. Am Ende des Tages blieb der Auftritt im Angesicht der zuvor erlebten bunten Vögel aber wieder einmal unauffällig und sortierte sich in der Kategorie der unterhaltsamen Randerscheinungen ein. Vielleicht versucht man es bei ihrem nächsten Gastspiel ja mal mit dem Hangar!?

Saltatio Mortis erlebten nach eigenem Empfinden heute einen regelrechten Kulturschock. Gestern noch auf einem Mittelaltermarkt unterwegs, sahen sich die „Roten Teufel vom Betze“ heuer mit einem partyhungrigen Open Air Publikum konfrontiert. „An die Säcke, fertig, los“, lautete daher die Devise! Und Vorsicht, einer “...kann Karate!“: Flagge schwingend stürmte Frontmann Alea (gänzlich unbescheiden) auf den Laufsteg und erklärte die Hildesheimer Festspiele mit einem energischen Luftsprung für eröffnet. Selbst noch mit einem Hangover vom Vortag kämpfend, ließ er sich die Strapazen nicht weiter anmerken und vollführte neben seinen Gesangseinlagen so manche kampfbetonte Pose. Keine Frage, Saltatio Mortis brachten den Asphalt zum Kochen. Seit ihrem 2009er Album „Wer Wind Sät“ (Platz 10 der Albumcharts) haben die Jungs einen unglaublichen Lauf. Einzig ihre überschwängliche Feierlaune lässt bisweilen einen faden Beigeschmack zurück, wirkt die permanente Fröhlichkeit doch mitunter etwas aufgesetzt. Aber wenn das Publikum jede Textzeile mitsingen kann, was will man als Musiker mehr?

Die 69 Eyes teilten heute das Schicksal Zeraphine gegen die Sonne anspielen zu müssen. Ich war sehr gespannt was die Helsinki Vampires heute zu leisten im Stande waren. Das aktuelle Album „Back in Blood“ wusste mit einer leichten Stilkorrektur durchaus zu überzeugen. Für gewöhnlich lassen die Jungs um Elvis-Imitator Jyrki69 auch nichts anbrennen. Der heutige Auftritt wirkte jedoch seltsam steif und antiquiert. Ganz so als erlebe man eine Band, die verzweifelt auf einer verebbenden Welle reitet. Genährt vom versiegenden Glanz vergangener Tage. Sehr merkwürdig! Ob es daran lag, dass die Vampires mit „Framed In Blood“, „Never Say Die“ und „Gothic Girl“ zu sehr auf Nummer sicher gingen?

Eine gute Viertelstunde nach Beginn zog ich es vor mich ein wenig in Gelände zu verziehen und dem Biergarten am Eingang des Hangars einen Besuch abzustatten. Spätestens jetzt verfluchte ich meine Entscheidung am morgen eine Lederjacke übergestreift zu haben. Im eigenen Saft schmorend musste dringend eine Abkühlung her! Wie gut dass der Eismann um die Ecke gleich ein paar leckere Calippo-Tüten auf Lager hatte. Selig mein Eis vertilgend, beobachtete ich gleichzeitig das sich abspielende Drama am Hangar. Agonoize spielten gerade und wie erwartet reichte die Kapazität der Halle nicht aus, um alle feierwütigen Fans gleichzeitig zu bedienen. Inzwischen war das Orga Team immerhin so schlau den Eingang mit Sicherheitspersonal abzuriegeln, sodass keine Menschenmassen mehr unkontrolliert in den Hangar strömen konnten. Die wartende Schlange vor dem Eingang wird es dennoch mit Verdruss zur Kenntnis genommen haben. Kurios wurde die Situation allerdings in der Umbaupause zu Feindflug. Hier staute sich die Schlange bis hin zum Beck`s Stand auf dem Hügel. Erst als dieser erreicht war hob sich am Hangar-Eingang das Flatterband, bis die gesamte Reihe mit Mann und Maus im Schlund der Dunkelheit verschwunden war. Woher plötzlich der ganze Platz kam hätte mich echt mal interessiert. Letztlich drangen aber auch die Feindflieger nicht zu all ihren Fans durch und ich mochte mir kaum ausmalen wie sich die Situation später beim Auftritt von Combichrist gestalten würde.

Zu den letzten Zügen der 69 Eyes hievte ich mich dann wieder in Richtung Hauptbühne und stellte fest, dass die Finnen scheinbar doch noch die Kurve gekriegt hatten. Lautstarker Beifall vor der Bühne und eine jubelnder Jyrki69 der das ganze einfach nur „Arschgeil!“ fand kündeten von einem versöhnlichen Ende der schleppend begonnenen Darbietung. Immerhin konnte man daraus lernen: „Always end on a high note!“

Man möchte mir verzeihen, dass ich mit dem anschließenden Auftritt der Editors nicht so recht warm wurde. Die Briten mögen allesamt formidable Musiker sein und die Veröffentlichung ihres Songs „Munich“ veranlasste sogar mich vor einer Weile meine heimische Guitar Hero Songbibliothek mit ihnen zu schmücken. Dennoch wollten die Herren für meinen Geschmack nicht recht zum düster-romantischen défiler des M´era Luna passen. Lediglich Tom Smith´s „Ian Curtis Gedächtnis-Stimme“ vermochte über sieben Brücken eine Verbindung zur alten Waveszene und damit einem früheren Urvater des Gothic herstellen.

Vielleicht war es aber gerade diese ungewohnte Entrücktheit, die dem Konzert seinen speziellen Flair verlieh. Sonst eher auf Lieberbergs „Rock am Ring“ oder den Scorpio-internen „Hurricane“ und „Southside“ Festivals zu finden, wurden die Exoten begeistert aufgenommen und animierten das Publikum mehr als einmal aus sich raus zu gehen. Mit „Papillon“ und den bunten Lämpchen ihrer eigens herbeigeschafften Lichtorgel beschlossen die Editors ihr einstündiges Set jedenfalls unter dem zufriedenen Beifall der Massen. Nach diversen Griffen ins Klo, die sich Scorpio in den vergangenen Jahren nachweislich geleistet hat (man denke nur an den Bekehrungsversuch mit Tool und The Jesus And Mary Chain) haben die Hamburger dieses mal mit ihrem Experiment voll ins Schwarze getroffen. Und mal ganz unter uns: wer nicht wagt der nicht gewinnt oder?! (PS: ich fand damals auch Tool super!!!).

Die vorletzte Band auf dem Hauptbühne verfügte womöglich von allen aufspielenden Kapellen über die vielfältigste Festivalerfahrung. Ob in Wacken, beim Rock am Ring, auf dem eigenen Jubiläum oder eben beim M´era Luna, sind In Extremo eine Allzweckwaffe die überall gleichermaßen ihre Fans findet. Kaum verwunderlich, dass sich der Platz vor der Bühne ähnlich gut füllte wie gestern beim Grafen. Nicht umsonst überzeugen die Mittelalterrocker auch an schlechten Tagen noch mit einem gewaltigen Spektakel.

Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang zunächst die Neubesetzung der Schlagzeugerposition und dessen Auswirkungen auf die Mittelalterszene. Nach dem Ausstieg ihres langjährigen Schlagwerkers „Der Morgenstern“ (a.k.a. Reiner Morgenroth), nutzte Letzte Instanz Drummer „Specki T.D.“ (alias Florian Speckhardt) die Gunst der Stunde, um sich den Platz hinter der verwaisten Schießbude zu sichern. Die Instanz wiederum holte sich als Ersatz das Talent des ehemaligen Subway to Sally Drummers David Pätsch ins Boot, welcher seinerzeit die Potsdamer für ein Engagement bei der Blue Man Group verlassen hatte. Wie klein die Musikwelt doch ist...

Nachdem wir den personellen Rudelbums geklärt hätten, konnte es also losgehen. In gewohnter Manier tischten „In Ex“ dem „verehrten Volk auf dem Platze“ eine Mischung aus altsprachlichen Krachern und deutschsprachigen Mittelalter-Rockern auf. Welche von beiden das höhere Mitmachpotential in sich trugen war nicht schwer zu erraten. Den Einstieg fanden die Sieben mit „Erdbeermund“, „Poc Vecem“ und dem Bundesvision-Titel „Liam“, heute in der klassischen Variante. Zwischendrin sorgte die Pyroabteilung immer wieder für zündende Momente. Ein Knall hier ein Kracher dort, kumulierte sich der Drang zum Zündeln zu einer 6strahligen Flammenwalze, die sich, passend zum „Sängerkrieg“, eindrucksvoll in den Himmel schraubte. Hou...Hou...Hou, da wurde es mächtig mollig unter der Nordmann Tanne!

Zum ersten und einzigen Mal an diesem Wochenende wurde jetzt auch bis weit hinter den FOH Turm gefeiert. Keine Frage, In Extremo trafen den Nerv der Masse. Dabei pickte sich Sänger Micha wie gewohnt seine Opfer aus dem Publikum, um ihnen fiktive Anekdoten auf den Leib zu schneidern, die er sogleich mit dem passenden Kommentar in Lacher ummünzte.

Hinter der Fassade aus Herzblut und offenkundiger Stimmung konnte man sich dennoch des Eindrucks nicht erwehren, dass dieser Auftritt für 6/7tel der Band eher ein Gig unter vielen war. Routiniert zogen die Herren ihr Programm durch ohne große Experimente zu wagen. Auf Klassiker vom Schlage eines „Herr Mannelig“, „Omnia Sol Temperat“ oder den legendären „Spielmannsfluch“ warteten die treuen Fans heute vergeblich. Stattdessen beendeten In Extremo ihr Set mit dem leicht karnevalistisch angehauchten „Küss Mich“ und der Feuerzeugballade „Auf´s Leben“. Während die 69 Eyes vorhin einen eher bescheidenen Gig auf den auf den letzten Metern retteten, mochte man „In Ex“ ankreiden ihren gelungenen Gig mit einem durchschnittlichen Abgang im gehobenen Mittelmaß versenkt zu haben. So kann es manchmal gehen!

Placebo durften auf der Main Stage anschließend den Platzhirschen geben. Wobei sich besagter Platz zum krönenden Abschluss noch einmal ordentlich gefüllt hatte. Es war zu sehen, dass viele Besucher dem Auftritt der Band entgegen gefiebert hatten und nun neugierig vor der Bühne ausharrten. Zuletzt im Jahre 2003 auf dem Hildesheimer Airfield zu Gast, nahmen die Jungs um Sänger Brian Molko keine Gefangenen. Stattdessen machten sie es auch dem Gelegenheitshörer leicht einen Zugang zu ihrer Show zu gewinnen. Markante Songs und Eckpfeiler, wie „Ashtray Heart“, „Every You Every Me“, das Nirvana Cover „All Apologies“ und „The Bitter End“ sorgten auch für den Laien für einen hohen Wiedererkennungswert. Was Brian Molkos Abendgarderobe betrifft, so hüllen wir jedoch lieber den Mantel des Schweigens über seine Erich Honecker Gedächtnisbrille, nebst weißem Anzug und Wollmütze! (Ach Mist jetzt ist es doch raus ;) ) Und auch sein anfängliches Versprechen „Wir sind Placebo aus England! Wir kommen in Frieden!“ sollte sich zumindest für das Kamerateam der Crazy Clip Show als falscher Fuffziger entpuppen.

Über jeden Zweifel erhaben war dagegen die fantastische Lightshow mit der die Engländer hier ins Rennen gingen. Nicht nur dass die Akteure vom Rampenlicht regelrecht gegrillt wurden, auch die großflächige LED-Wall am Bühnenrücken verstand es visuelle Akzente zu setzen. Placebo mochten mit ihrem Sound nicht unbedingt als typischer Headliner für ein Gothic Open Air durchgehen, doch die Extravaganz ihres Auftritts und der Geschmack des großen Rock & Roll Business hauchten dem Geschehen einen unverkennbaren Spirit ein, der auch in Hildesheim bestens funktionierte. Insofern fand das diesjährige M´era Luna mit Placebo einen vollkommen würdigen Abschluss.

Nach den letzten Zügen von Molko & Co. setzte sich die gewaltige Menschentraube allmählich in Richtung Ausgang in Bewegung. Nur um es nochmal zu verdeutlichen: 24.000 Menschen hatten das Festival in diesem Jahr besucht und damit den alten Rekord des M´era Luna um 1000 Mann überboten. Angesichts des ebenfalls Rekordzahlen schreibenden Amphi Festivals in Köln ist es angenehm zu beobachten, dass die aktuellen Platzhirschen unter den schwarzen Szenefestivals es geschafft haben sich jeweils auf ihre Weise zu behaupten, ohne sich gegenseitig das Publikum zu entziehen.

Organisatorisch lässt sich den Routiniers von Scorpio wie gewohnt nur wenig ankreiden. Das große Ganze funktioniert seit Jahren als eingespieltes Konzept. Die Übersicht der wohlwollenden Secu ist an Professionalität kaum zu überbieten und Detailverbesserungen wie die Neupositionierung der Autogrammstunden oder die neuen Sitzmöglichkeiten im Gelände entlockten mir ein wohlwollendes Kopfnicken. Ein wenig verkalkuliert haben sich die Hamburger dagegen bei der Kontrolle der Computertickets. So kam es durch das neu eingeführte Scan-System der Eintrittskarten am Freitag zu erheblichen Verzögerungen, welche (so wurde es von mehreren Besuchern kolportiert) in der Folge einen Stau auf der Autobahn hervorriefen.

Die Dixi-Toiletten auf dem Gelände waren dagegen zahlreich vorhanden sodass es hier selten zu Wartezeiten kam. Nur an der Versorgung mit Toilettenpapier darf man bei Scorpio gerne arbeiten. Das Catering, qualitativ nicht im Einflussbereich des Veranstalters, hat auch schon bessere Zeiten erlebt. Während man mit einer Eistüte der Marke „Langnase“ nicht viel falsch machen konnte und eine Extraportion Holland-Fritten für 4,50 auch gerade noch in Ordnung gingen, waren die Cheeseburger nur mit Vorsicht zu genießen. Mein Exemplar für stattliche 5 Euro war leider kalt und schmeckte entsprechend schrecklich. Empfehlenswert war dagegen die Rostbratwurst für 3 Euro und auch die Getränkeversorgung im Vip-Bereich klappte vorzüglich. Draußen auf dem Platz servierte man mir dagegen lauwarme Cola mit wenig Geist und nicht minder schwach gekühlten Sprudel im 0,2er Becher für 1 Euro. Insgesamt also ein eher durchwachsenes Erlebnis!

Das Programm bot dagegen für jeden Geschmack etwas. Lediglich bei der Verteilung der Bands fehlte es Scorpio an dem notwendigen Fingerspitzengefühl. Laibach auf die Hauptbühne zu packen war einer der gröberen Schnitzer, was die Slowenen dem Veranstalter mit einem entsprechend lustlosen Auftritt heimzahlten. Agonoize und Combichrist hingegen sind inzwischen dem Hangar entwachsen. Die Leidtragenden waren auch hier wieder einmal die Fans. Dem gegenüber stehen gelungene Experimente wie die Verpflichtung der Editors, das Massenphänomen Unheilig und die schillernden Exoten Hanzel & Gretyl und Punish Yourself.

Nach dem Fest ist bekanntlich vor dem Fest. Und so wurde noch am Abend des 08. August der Termin für das kommende Jahr genannt. Zwar war man sich anfangs nicht so recht über das Datum einig. Verlässlichen Quellen zufolge steigt das M´era Luna Festival 2011 jedoch 13. & 14. August 2011. Als erster Co-Headliner haben ASP ihre Teilnahme zugesagt. Das diesjährige Festival endete unterdessen mit dem traditionellen Autokorso in Richtung Heimat. Rund um die Ausfahrtrouten herrschte reger Verkehr, nur unterbrochen von den üblichen Polizeikontrollen, die nach dem Zufallsprinzip Besucher auf Alkohol- und Drogenkonsum hin überprüften. Letztlich kamen Polizei, Rettungsdienste und Behörden erneut zu dem Fazit eines friedlichen und familiären Open Air Festivals auf dem Flugplatz in Hildesheim Drispenstedt! Das kann man durchaus so stehen lassen!

Euer Ritti

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